Kannste nicht meckern! Das Line-Up für’s diesjährige Open Air Bitte Sehr überzeugt auf ganzer Linie. Bringt Punk, Core, Doom, Grunge und Post-Post-Punk, um nur die gängigsten aller albernen Genre-Plaketten aufzuzählen. Ist auch wurscht, getreu dem Motto von Benni Schurtz aus dem Erzgebirge: „Steck mich in ne Schublade und ich spreng Dir den ganzen Schrank!“

Wermelskirchen – NRW – clever ausbalanciert genau zwischen Düsseldorf und Köln platziert. Ein Nest, dem Deutschland OBI und Frank Plasberg zu verdanken hat. Und Leverkusen seinen Namensgeber: Otto Leverkus. Und Ni Ju San! Die Deutsch-Punker, bei deren aktueller Single wir hier die Titelzeile geklaut haben, sind schon seit mehr als 20 Jahren unterwegs. Das ist beeindruckend. Genau wie ihr Sound – konsequent und kompromisslos laut, schnell und geradeaus.
Trifft nur bedingt auf Specht Ruprecht zu. Ähnlich wie Ni Ju San sind sie altgedient, haben, wenn wir richtig gezählt haben, schon ihr 17 Alben veröffentlicht! (Highlight: „Jubel Trubel Halbwahrheit“. Die Selbstbeschreibung lautet auf: „Wellness Punk & Happy Metal mit Rap Gedöns aus Erfurt“ führt aber in sympathischem Understatement in die Irre. Specht Ruprecht brettern herrlich vertrackt, geben Gas, bremsen, biegen um ungeahnte Ecken. Da kann einem schon mal der Bierbecher wegrutschen, wenn man da versucht mitzukommen und sich zu sicher auf Viervierteltakt verlässt.
Das gilt auch für Paulinchen Brennt. Denen ist geradeaus zu langweilig. Das Magazin Noisolution warf sich jüngst in der Rezension zum Album „Mache“ mit folgenden Formulierungen ehrfürchtig in den Staub: „Musikalisch vertrackt bis anstrengend zwischen Noise, Screamo, experimentellem Post-Hardcore angesiedelt. Störrische Riffs und keifende Vocals runden MACHE als Erstling konsequent ab.“ Und schlussfolgert, die Musik von Paulinchen brennt könne „mit wütender Faust liebevoll die Ohren massieren. 8 Lieder, die so apokalyptisch gut sind, dass der Teufel und Gott sie auf ihrer Lieblingsplaylist haben.“
Der Name Paulinchen Brennt bezieht sich übrigens auf Kapitel aus dem „Struwwelpeter“. Was dem Schreiber dieser Zeilen die großartige Gelegenheit einer literarischen Überleitung zu Tønda bietet. Deren letztes Album heißt „Koraktor“, was uns wiederum ins Sorbische und zum Klassiker „Krabat“ bringt. Das Koraktor ist ein magisches Zauberbuch, aus dem der Meister im Roman seinen Schülern jeden Freitag einen dunklen Zauber lehrt. Muss man das wissen? Nö, magisch-düster-tödlich kann die Band auch ohne diesen Bezug. Reicht auch ein Blick auf ihr Insta-Profil, welches vielsagend unter Tønda_doom zu finden ist!
Aus Leipzig hingegen reisen die Heroine Whores an. Ein Trio? Ein Duo? Kann man nicht so genau vorhersagen. Gesehen hat man sie schon in der einen wie der anderen Besetzung. Was sie so oder so bieten: eine selige Reise zurück in die Zeit als Grunge noch wirklich dreckig war und nicht Mainstream im Holzfällerhemd von C&A, Courtney Love noch keine Schauspielerin und die Babes In Toyland noch das Maß der Dinge.
Und das waren jetzt nur sechs Namen. Da kommen ja noch Endlich schlechte Musik, Runnerzus, Kohinoor, Gülleschiss, Løm, Kunstfluss Aal, Senor Karoshi, Schlünd, Trickel, Sojus 3000 und Tupé Ostří.
Und der eingangs erwähnte Benni Schurtz! Gebrüllt-Elektrisches mitten in die Fresse: „Alles verfällt und alles missfällt mir!“ Trifft jedenfalls NICHT auf das Open Air Bitte sehr zu.
Autor: Hendryk Proske
P.S. Specht Ruprecht musste leider absagen und Kunstfluss heißt jetzt Aal – Alles außer leise.
Das Open Air, Bitte sehr wird zur 10jährigen Ausgabe gefördert von Polylux e.V. – solidarisches Netzwerk für den anderen Osten.
